Shake your Style.

01.05.2009

Schule als Instrument der Entfremdung

Ivan Illich hat 1970 ein Buch geschrieben, in dem er eine radikale Einstellung gegenüber dem öffentlichen Bildungswesen darlegt. Darin soll stehen, warum die Schule (als Institution) nicht etwa reformiert sondern sogar abgeschafft gehört. Da dachte ich, das muss ein gesellschaftstheoretisches Buch sein, wie es mir gefallen könnte: nicht zu zimperlich, schön links und (das allerwichtigste...) ein Thema mit Pfiff. Also bin ich in der Universitätsbibliothek hinabgestiegen in das Reich der Erziehungswissenschaft und habe mir das kleine gelbe Taschenbuch ausgeliehen. Im Moment bin ich mit dem Buch noch nicht fertig, und es ist ziemlich grenzwertig. Aber trotzdem kann man sich an der Radikalität der Ideen und der feindseligen Sprache besser wärmen als an jeder brennenden Mülltonne. Und diese Wärme möchte ich mit euch anhand einiger ausgesuchter Ausschnitte teilen.

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Es liegt doch auf der Hand, daß, selbst wenn es Schulen von gleicher Qualität gäbe, ein armes Kind nur selten mit einem reichen mithalten kann. Selbst wenn sie die selbe Schule besuchen und im gleichen Alter eingeschult worden sind, fehlen dem armen Kind doch die meisten Bildungsmöglichkeiten, die dem Kind aus bürgerlichem Hause ganz selbstverständlich zur Verfügung stehen. Diese Vorteile reichen von Gesprächen und Büchern im Elternhaus bis zu Ferienreisen und einem anderen Selbstgefühl; sie gelten für das Kind, dem sie zuteil werden, innerhalb wie außerhalb der Schule.

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Der Austausch von Fertigkeiten und das Zusammenführen von Partnern beruhen auf der Annahme, daß Bildung für alle auch Bildung durch alle bedeutet.

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Theologen haben seit Bonhoeffer auf die Konfusion hingewiesen, die heute zwischen biblischer Botschaft und institutionalisierter Religion herrscht. Sie weisen auf die Erfahrung hin, daß christliche Freiheit und christlicher Glaube gewöhnlich aus der Säkularisierung Nutzen ziehen. [...]
Fraglos wird der Bildungsprozeß ebenso aus der Entschulung Nutzen ziehen, obwohl solche Forderung vielen Schulmännern wie ein Verrat an der Aufklärung vorkommt. Es ist aber gerade die Aufklärung, der heute in unseren Schulen der Todesstoß versetzt wird.

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Die Entscheidung der Gesellschaft, Bildungsmittel vornehmlich denjenigen Bürgern zuzuteilen, die die außergewöhnliche Lernfähigkeit ihrer ersten vier Lebensjahre bereits hinter sich gelassen, den Höhepunkt selbstmotivierten Lernens aber noch nicht erreicht haben, wird später einmal wahrscheinlich als absurd empfunden werden.

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Den größten Teil dessen, was wir wissen, haben wir alle außerhalb der Schule gelernt. Schüler lernen das meiste ohne ihre Lehrer und häufig trotz diesen. Am tragischsten ist, daß die meisten Menschen ihren Denkzettel durch Schulen erhalten – selbst wenn sie niemals eine Schule besuchen.

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Die Behauptung, die moderne Schule könne Keimzelle einer liberalen Gesellschaft sein, ist widersinnig. Alle Sicherungen der persönlichen Freiheit werden im Umgang eines Lehrers mit seinem Schüler aufgehoben. Vereinigt der Lehrer in seiner Person die Rollen des Richters, des Ideologen und des Arztes, so wird die für die Demokratie charakteristische Gewaltenteilung gerade in der Schule verleugnet.

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Das meiste Lernen ist nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es ist vielmehr das Ergebnis unbehinderter Interaktion in sinnvoller Umgebung. [...] Lassen junge Menschen es ersteinmal zu, daß ihre Phantasie durch lehrplanmäßigen Unterricht reguliert wird, so werden sie für institutionelle Planung jeglicher Art konstitutionalisiert.

2 Kommentare:

georg hat gesagt…

Da kommt mir ein Lied von Reinard Mey in den Sinn:

"Es gab nur Liebe und Versteh'n, gab nur Freiheit bislang,
Und nun droh'n Misserfolge und Versagen.
Der Wissensdurst versiegt unter Bevormundung und Zwang,
Die Gängelei erstickt die Lust am Fragen.
Die Schule macht sich kleine graue Kinder, blass und brav,
Die funktionier'n und nicht infragestellen,
Wer aufmuckt, wer da querdenkt, der ist schnell das schwarze Schaf.
Sie wollen Mitläufer, keine Rebellen,
Ja-Sager wollen sie, die sich stromlinienförmig ducken,
Die ihren Trott nicht stör'n durch unplanmäss'ge Phantasie,
Und keine Freigeister, die ihnen in die Karten gucken
Und die vielleicht schon ein Kapitel weiter sind als sie."

georg hat gesagt…

Hellmut Becker und Theodor W. Adorno im Gespräch: Erziehung zur Mündigkeit (1969). Ein kurzer, wirklich kurzer Auszug:

"Adorno: 'Die Forderung nach Mündigkeit scheint in einer Demokratie selbstverständlich'

[...]

Becker: 'Dass wir an unserem gesamten Bildungswesen, wie wir es bisher in der Bundesrepublik hatten, deutlich machen können, dass wir eigentlich nicht zur Mündigkeit erzogen werden'

[...]

Adorno: 'So dass schon die Voraussetzungen der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist'

[...]

Becker: 'Dass die Anpassungsleistung als Haupterfolg frühkindlicher Erziehung gilt, ist wohl in sich eine Tatsache, die uns zu denken geben sollte'

[...]

Becker: 'Wie mir scheint, ist in diesem Zusammenhang eine der wichtigsten Aufgaben in der Schulreform die Auflösung der Bildung nach einem festen Kanon'