Shake your Style.

05.11.2007

Echt eh!

Seit geraumer Zeit bildet ein putzig gelbes Reclam Büchlein die Grundlage der mentalen Flucht aus langweiligen Vorlesungen, mit dem Anspruch eines kleinen Einblicks in die Methodik und Theorie der Philosophie („Grundkurs Philosophie“ in 5 Bänden à ca. 150 Seiten). Ich möchte euch aus Band 1 zur Logik mal zwei gängige philosophische Definitionen, oder Vorschläge zur Definition, der (Satz-) Wahrheit vorstellen:
  1. Satz 'p' ist wahr genau dann, wenn 'p' mit entsprechenden Fakten übereinstimmt (Korrespondenztheorie).
  2. Satz 'p' ist wahr genau dann, wenn sich die Sachverständigen in freier Diskussion darauf einigen, 'p' zu akzeptieren (Konsens- oder Verifikationstheorie).

Satz (1) definiert „Wahr“ einfach als Übereinstimmung mit der Realität, was sehr einleuchtend ist. D. h., der Wahrheitswert einer Aussage wird durch den Vergleich der Behauptung der Aussage mit der Realität bestimmt. Wahrheit wird demzufolge als Eigenschaft verstanden, die über die Güte unserer Vorstellung über einen Sachverhalt urteilt. Als Voraussetzung dieses Urteils muss eine exakte Realität bekannt sein, mit der dieser Vergleich angestellt werden kann, wobei dieser Realität das Prädikat „Wahr“ zugesprochen werden kann. Hier treffen wir auf ein Problem, da wir zur Definition von „Wahr“ das Wahre selbst brauchen. Ziemlich komisch oder?
Beispielsweise die Aussage: „Dieser Apfel ist grün!“ wird als wahr angesehen, solange die Farbe dieses Apfels mit der Farbe Grün übereinstimmt. Was ist aber wenn die Vorstellung von der Farbe Grün schon eine Falsche ist. Dann Sprechen wir dem Apfel die Farbe Grün zu obwohl er vielleicht Rot ist. Es ist also höchst Problematisch von Wahrheit zu sprechen, wenn man nicht hundertprozentig weiß wie sie aussieht. Dies macht den Gebrauch von Wahrheit im Sinne dieser Definition schwer.

Die Notwendigkeit der Kenntnis einer exakten Realität umgeht Satz (2) indem er den Wahrheitsbegriff etwas abschwächt. Wahrheit kann nur in Bezug auf unsere tatsächlichen Vorstellungen angewendet werden, wobei eines zu einer gewissen Zeit als wahr gelten kann, zu einer anderen Zeit aber als falsch, je nach dem wie sich unsere Vorstellungen entwickeln. Zudem würdigt er den Fakt, dass unser Bild von Realität durch unsere Sinne beeinflusst oder verzerrt ist, und wir somit nie die absolute Realität erfahren können, da wir die Realität nur durch unsere Sinne abbilden können.
Diese Einschränkung des Wahrheitbegriffes auf unsere Erfahrungen ist aber auch nicht ohne Tücken. Über den Wahrheitswert dieser Aussage: „Martin wird nie sein Senf zum Thema Wahrheit in diesem Rahmen beitragen“ kann demnach nur entschieden werden, wenn wir das Verhalten von „Martin“ in allen Einzelsituationen kennen und somit eine Vorstellung von jeder Situation haben, also auch derer in der Zukunft. Zum jetzigen Zeitpunkt kann kein Urteil über die Wahrheit dieses Satzes gefällt werden, sondern erst wenn „Martin“ stirb, oder uns vom Gegenteil überzeugt hat. Diese Aussage ist nicht Wahrheitswertdefinit, wie man so schön sagt. Das Verletzt nun aber eines der grundlegensten Prinzipien der klassischen Logik, und zwar das vom ausgeschlossenen dritten, das sich aus diesen beiden Sätzen ergibt:
  1. Es gibt genau zwei Wahrheitswerte: 'wahr' und 'falsch.'
  2. Jede Aussage hat mindestens einen Wahrheitswert.

Mit diesem Widerspruch zur klassischen Logik kann man eventuell noch leben, zumal der Satz vom ausgeschlossenen Dritten umstritten ist. Man sollte in einer guten Argumentation derartige Aussagen aber nicht verwenden, da ansonsten der Schluss in frage gestellt werden kann.
Wendet man diese Wahrheitsdefinition im Bezug auf die Existenzfrage an, so kann man leicht zum Idealismus verleitet werden, indem man sagt: „Alles Existiert nur, weil wir es wahrnehmen“, also eine Vorstellung davon haben, andernfalls kann ja nicht gesagt werden dass etwas wirklich existiert. Diese Aussage ist aber recht heikel, da Beispielsweise die Naturwissenschaften nach Sachverhalten forschen, von denen wir noch keine Vorstellung haben, wobei der Erfolg der Naturwissenschaften darauf schließen lässt, dass es tatsächlich eine von uns unabhängige und unwahrgenommene wahre Realität gibt. Der Wahrheitsbegriff dieser Definition schließt demzufolge nicht alle Wahrheiten mit ein, was ihr einen Touch Unvollständigkeit verleit.

Eine allumfassende Definition der Wahrheit gibt es trotz der erkannten Missstände, glaub ich, dennoch nicht, woraus sich zeigt, dass es nicht so einfach ist eine zu finden. Deshalb werde auch ich euch hier keine liefern, und schließe guten Gewissens.

Guten Abend!

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So'n Mist, da hab ich mir soviel mühe mit Html-Code beim Kommentar gegeben, und dann kann man da gar keinen verwenden. Also dann eben hier das Kommentar Nr. 3.

Zu Satz (1): Der Punkt in diesem ist ja gerade der, dass sich die Wahrheit auf eine externe von uns unabhängige Realität bezieht, also sämtliche subjektiven Einflüsse beiseite lässt. Es ist die allgemeine Realität, von der gesagt wird, dass sie nur vom "Gottesstandpunkt" her einsehbar ist, wobei hier "Gott" nicht in Bezug zur Religion steht, sondern nur zur Verdeutlichung der übergeordneten Realität dient. An diesem Punkt setzt ja auch die Gegenargumentation zur Definition ein, da diese Realität uns nicht zugänglich ist, und wir diesen Wahrheitsbegriff gar nicht anwenden können.

Andererseits kann man sich natürlich doch fragen, ob einem nicht tatsächlich die absolute (materielle) Realität zugänglich ist. Was z.B. wenn zwei Wissenschaftlern zur gleichen Zeit unabhängig voneinander die gleiche Entdeckung gelingt. Das heißt bei beiden fand genau die gleiche Interaktion mit der Umwelt statt, woraus man schließen kann, dass beide Realitäten in diesem Punkt gleich sind und somit evtl. auch auf alle Realitäten verallgemeinerbar. Dies begründet ja die Formulierung eines Naturgesetzes. Wäre dies nicht der Fall, würde bei mindestens einem der Stein in seiner Realität nach oben fallen, ist aber nicht so.
Des weiteren kann man sagen, dass sich unsere Wahrnehmungsorgane in Abhängigkeit von der externen Realität entwickelt haben, und somit an diese angepasst sind, und darauf getrimmt sind, diese wahrzunehmen.

Würde man trotzdem nur von einer rein subjektiven Realität ausgehen könnte man wie bereits gesagt zum Idealismus verleitet werden (man wäre soger Idealist), also mit der Aussage "Alles existiert nur, weil ich es Wahrnehme", oder "Alles Existiert nur in mir, und mit mir." In diesem Punkt bringe ich euch die Kantsche Widerlegung des Idealismus (aus dem kleinen Reclam Büchlein):

Zu zeigen:
  • Wenn Person S sich dessen unbezweifelbar bewusst ist, dass sie selbst existiert, dann existieren Gegenstände im Raum außer S.

Beweis:
  1. S ist sich dessen unbezweifelbar bewusst, dass ihr Dasein in der Zeit bestimmt ist.
  2. Die Bestimmung eines Daseins in der Zeit setzt die Wahrnehmung eines Beharrlichen voraus, relativ zu der das Dasein in der Zeit bestimmt werden kann.
  3. Die Wahrnehmung eines Beharrlichen wird von etwas Beharrlichem hervorgerufen.
  4. Dieses Beharrliche ist nicht in S.
  5. Also: Die Wahrnehmung eines Beharrlichen durch S wird durch ein Beharrliches außerhalb von S hervorgerufen.
  6. Dieses Beharrliche außerhalb von S sind Gegenstände im Raum außerhalb von S.
  7. Also: Es existieren Gegenstände im Raum außerhalb von S.


Soviel erstmal dazu.

14 Kommentare:

michael matschie hat gesagt…

Zum Thema Wahrheit fällt mir doch gleich eine Menge ein. z.B. du verträgst die Wahrheit doch gar nicht oder auch wer zugibt die Wahrheit nicht zu kennen, ist ihr auf einmal viel näher. Aber ich möchte mir auf ein Zitat von Ändy beschränken.
„Satz (1) definiert „Wahr“ einfach als Übereinstimmung mit der Realität, was sehr einleuchtend ist. D. h., der Wahrheitswert einer Aussage wird durch den Vergleich der Behauptung der Aussage mit der Realität bestimmt.“

Eine kleine Geschichte. Eine schizophrene Frau wird ins Krankenhaus von Parma eingeliefert. Da es aber im Krankenhaus keinen kompetenten Arzt gibt, der sich näher mit der Frau beschäftigen kann, soll sie mit dem Krankenwagen nach Rom gefahren werden, wo man ihr helfen kann. Als die Pfleger kommen um sie zum nach Rom zu bringen, wurde die Frau hysterisch, sie setzte sich zum Wehr, wurde ausfällig und behauptete eine andere zu sein. Man musste ihr sogar ein Beruhigungsmittel injizierten damit sie in den Krankenwagen gebracht werden konnte. Auf der halben Strecke zwischen Parma und Rom wurde der Krankenwagen von der Polizei angehalten. Die falsche Frau wurde nach Rom gebracht. Ich möchte nicht auf den tragischen Irrtum hinaus. Mir ist vielmehr daran gelegen, dass jede Reaktion der Frau als weiter Beweis für ihre Schizophrenität galt. Und so entstehen Realitäten.

Lieber André, du siehst eine passende Übereinstimmung mit der Realität ist absolut subjektiv. Man sollte Realität nicht im Singular benutzen, es ist schlicht irreführend.

georg hat gesagt…

Ich muss dem Michau zustimmen. Doch zunächst mal wieder Respekt an den André: Du scheinst ein unfehlbares Talent zu besitzen, ständig die heftigsten und schwierigsten Diskussionen loszutreten, die man sich vorstellen kann. Vom Wesen der Wahrheit zum Beispiel, oder besser: Was ist Wahrheit? Wie ist sie zu definieren und inwiefern nimmt eben diese Definition sich selbst schon vorweg?

Ich habe viel zu wenig gelesen und mein kleines Köpflein ist viel zu oft viel zu weit entfernt, konstruktiv an diesem philosophischen Dilemma eine zumindest für mich selber zutreffende Wahrheitsdefinition zu erstellen. Deshalb nur soviel: Der Mensch betrachtet die Welt und baut sich aus den dadurch gewonnenen Erkenntnissen eine Realität. An dieser misst er Wahres und Unwahres. Da er in stetem Austausch mit seinen Mitmenschen steht, versucht er eine allgemeine, also über seine Grenzen hinweggehende Realität zu kreieren. Dies nennt er Wissenschaft, da er sich seiner Realität (Wahrheit) erst durch Falsifizierung (Überprüfung, kritische Auseinandersetzung) anderer Menschen sicher werden kann. Dieser Schritt kann niemals endgültig sein, denn nur was wir beobachten, existiert, und nur immer dann für den Moment der Beobachtung und des Begreifens. Alles besteht somit aus subjektiven Annahmen, die ständig neu begründet werden müssen und sich womöglich verändern.

Für mich ist Wahrheit, als an die Existenz der Realität geknüpftes Qualitätskriterium, somit stets subjektiv und niemals universal. Oder um es mit den Worten Wilhelm Buschs zu sagen: "Die Wahrheit ist zu schlau, um gefangen zu werden."

Lasst uns mit Annahmen arbeiten, und ich bin dabei.

clem hat gesagt…

Wer das mit dem ausgeschlossenen dritten nochmal ausführlicher wissen will, findet hier ein paar Worte:
http://www.lhanke.de/site/objektiv.php

Bei der Frage nach einer Definition von wahr, muss bedacht werden,

1. dass Definitionen nicht richtig oder falsch sein können. Erst recht nicht diese Definition, weil richtig synonym zu wahr ist.
2. dass Definitionen nur widersprüchlich oder widerspruchsfrei sein können. Ob eine widerspruchsfreie dann auch geeignet ist, bleibt Geschmackssache. Aber das Kriterium des Widerspruchsgehalts kann nicht untersucht werden, weil es nur logisch beurteilt werden kann und damit nicht ohne den Begriff "wahr" selbst auskommt.

Die Frage nach einer Definition von Wahrheit kann aus diesen unschlagbaren Gründen nicht beantwortet werden.

Das Misverständnis geht also nicht erst bei der Bedeutung von "grün", sondern bei der Bedeutung von "wahr" schon los.

Das ist von weitem betrachtet auch garkein Problem. Es fühlt sich nur komisch an, weil man gerne seine eigene intuitiv gefühlte Vorstellung des Wahrheitsbegriffs rational festmachen und sich durch Definitionsversuche täuschen will.

Definition (1) postuliert einfach eine Realität und postuliert dann auchnoch zwischen den Zeilen deren Überprüfbarkeit (Wie soll Überprüfbarkeit ohne "wahr" wohl erklärt sein?) und setzt diesen künstlich von der Wahrheit getrennten Realitätsbegriff (bzw. ihren observablen Teil) schließlich in einem miesen Taschenspielertrick wieder mit Wahrheit gleich, so quasi hintenrum.

Die Welt steht also auf wackeligen Beinen.

michael matschie hat gesagt…

Eine Wahrnehmung selbst bedarf immer einer geistigen Interpretation. Das wir einen Baum als Baum erkennen ist nicht Produkt unser Wahrnehmung, es ist vielmehr unser Verstand der den wahrgenommenen Gegenstand zum Gegenstand macht. Es offenbart sich hier auch die Schwäche der kantschen Denkfigur. Punkt c (Die Wahrnehmung eines Beharrlichen wird von etwas Beharrlichem hervorgerufen.) ist eine Prämisse die annimmt dass es eine objektive Beharrlichkeit gibt. Es gibt aber nur eine subjektive, die Kant dazu noch mit den abstakten Worten "ein Dasein zu aller Zeit" definiert.

Ich möchte meinen Standpunkt noch etwas verdeutlichen. Wenn ich aus den Fenster sehe, steht da ein Baum. Der steht dort schon seit ich das erste Mal hier war. Ob er schon vorher dort stand weiß ich nicht. Ich weiß ebenfalls nicht ob er morgen noch steht, geschweige den welcher Gattung er angehört. Wenn ich meine Mitbewohnerinnen frage ob sie den Baum wahrnehmen und ihm deswegen eine Existenz zuschreiben, dann kann ich sagen dass der Baum in der von uns geteilten Welt existiert. Mir ist wichtig dass an dieser Stelle weder das Wort Realität noch das Wort objektiv benutzt wird. Dieser Welt kann man die ein oder andere Gesetzmäßigkeit entnehmen, man kann nach Erklärungen dieser Gesetzmäßigkeiten suchen. Diese Erklärungen sind als Theorie oder Glaube denkbar. An dieser Stelle wird die Welt da draußen auch zur Realität, wir geben ihr eine Sinnhaftigkeit. Der Glaube ist immer im Subjekt selbst begründet und die Theorie hat die Eigenschaft dass sie niemals wahr ist. Dazu jetzt die Argumentation von Karl Popper aus meinem Wissenschaftstheoriehefter:

Popper: Induktionen sind fehleranfällig und nicht logisch.
Problem: Schwan1 ist weiß. Schwan2 ist weiß. Schwan3 ist weiß… - Alle Schwäne sind weiß.
Ein solcher Schluss ist nur dann wahr wenn man eine Prämisse setzt oder es als Erkenntnis a priori (der Kreis ist rund) definiert (ein Schwan muss weiß sein um Schwan zu sein). Die Begründung einer Prämisse kann wiederum nur induktiv geschehen, was zu einer endlosen Induktion. Wie entstehen nun aber Theorien?
Popper: Das Zustande kommen einer Theorie ist wissenschaftlich irrelevant. Die Genese ist egal. Die Geltung aber nicht.
Als Theorie wird definiert: Ein deduktiv geschlossenes Aussagesystem mit Zusammenhang zwischen einzelnen Aussagen. Theorien sind Aussagen, keine Wahrheiten.
Folgendes Vorgehen:
Man nehme eine Theorie
Man prüfe Konsistenz und Kohärenz
Man leite spezielle Aussage ab (deduktiv), man erstelle Prognose
Prognose falsifiziert, ist auch Theorie falsifiziert
Prognose wahr, ist die Theorie bewährt, sie ist nicht wahr aus oben beschriebenen Induktionsprinzip

Zusammenfassung:
a) Axiome (allgemeine Aussagen), werden nicht überprüft
Daraus entwickeln sich
b) Gesetzeshypothesen; für alle x gilt: wenn x dann y
Daraus entwickeln sich
c) besondere singuläre Aussagen im räumlich, zeitlichen Rahmen
Prognose überprüfen:
Prognose wahr, Theorie bewährt
Prognose falsch, Theorie falsch
Theorien die nicht falsifiziert werde können sind unwissenschaftlich (soviel zum Kreationismus)

Wesendlich ist für mich das eine Realität nicht wahr sein kann, sie kann sich aber bewähren. ein einfaches Beispiel: die Zugvögel sind gen Süden geflogen und die Bäume haben ihr Laub verloren. Diese beiden Aussagen über die Welt können unabhängig von einander getroffen werden. Verknüpft man sie kausal mit den Herbst, kann man sagen: In Wirklichkeit/Realität sind die Vögel davon geflogen und die Bäume haben sich entkleidet, weil es Herbst geworden ist. Wir geben dem Herbst eine Bedeutung und es entsteht eine Realität, eine Konstruktion unseres Verstandes also.

Dann also viel Spaß beim konstruieren eurer Realitäten. Ich habe ihn aufjeden Fall

christin hat gesagt…

Da ich die letzten Jahre reichlich medizinsch geprägt worden bin, möchte ich in diesen spannenden Diskurs einwerfen, dass der Mensch ein sich entwickelndes Wesen ist. Die Entwicklung von Organsystemen zu immer komplexeren Einheiten und Struckturen ermöglichen ein Überleben in unserer Umwelt, die uns prägt. Sehr fazinierend finde ich dabei die Anatomie unseres Gehirns. Eine evolutionär gesehen alte Strucktur unseres Gehirns ist der Thalamus. Er stellt eine Art Filtersystem dar. Alle afferenten Informationen in die Großhirnrinde ziehen durch die Neuronen des Thalamus und werden durch, zum Teil genetisch festgelegte, Schaltkreise moduliert. Dies führt dazu das bestimmte Informationen, die das Gehirn immer erreichen, uns nicht "bewusst" werden. Wir denken nicht mehr darüber nach, dass wir z.B. Atmen, Zwinkern, Schlucken, Greifen oder wie unsere Lage im Raum ist. Sämtliche Prozesse der Körperwahrnehmung laufen quasi unbewusst ab. Dies schafft einen wesentlichen Aspekt für unser Gehirn: freien Speicher/ freie Kapazitäten. Die evolutionär junge Sturktur der Großhirnrinde, die sozusagen das Korrelat unseres Bewusstseins darstellt, hat erst dadurch die Chance über Wahrheit und das eigene Selbst zu reflektieren. Denken, so wie wir es hier praktizieren, ist erst dadurch möglich, dass nicht alles was wir wahrnehmen auch wirklich wahr genommen wird. Ein Beispiel, das mich persönlich im Neuroanatomie- Kurs sehr fasziniert hat: Wenn du früh morgens deine Hose anziehst, senden die feinen Drucksensoren der Haut, elektrophysiologisch nachweisbar, beständig das Signal des Drucks der Hose auf die Haut an das Gehirn. Die Haut sagt dem Gehirn also ohne Unterlass "du hast eine Hose an". Nur aufgrund der Struktur des Thalamus ist es uns möglich, mit Hosen und offenen Augen,für allerlei andere Sinneseindrücke, durch die Welt zu laufen ohne dabei das Fassungsvermögen unserer Großhirnrinde zu sprengen.
Die bewusste menschliche Wahrnehmung ist also ein zu tiefst selektierter Ausschnitt unserer tatsächlichen Umwelt.
Hinzu kommt, dass Problem der kindlichen Entwicklung und Prägung. Auf das Gehirn bezogen, kann man zwar gewisse Struckturen als bereits entwickelt ansehen,aber die genaue Ausgestaltung und Vernetzung der einzelnen Abschnitte erfolgt im Lernprozess der Interaktion mit der Umgebung. So werden in bestimmten Entwicklungsstufen verschiedene Denkwege gebahnt und ausgebaut, je häufiger man sie benutzt. Je nach Förderung und Erfahrungen bilden sich unterschiedlich komplexe Verbindungen heraus. Dies ist Grundlage der Fähigkeit mehr oder weniger abstrakt zu denken, selbstreflektiert und einsichtig zu sein.
Um zum Wahrheitsbegriff zurückzukommen, hat mich mein bisheriges Studentenleben zu der Erkenntnis kommen lassen, dass menschliches Leben äußerst faszinierend und komplex, aber auch sehr variabel ist; ganz besonders, wenn es um das Denken geht.
Daher schließe ich mich Georg an, dass man bei dem Wort Wahrheit eher über die Annahme von Wahrheit als über die absolute Definition von Wahrheit sprechen sollte; schon allein aus neuroanatomischen Gegebenheiten.

clem hat gesagt…

Michau, ich glaube du löst das zugrundelegende Misverständnis auf. André sprach von dem Wahrheitsbegriff der Wissenschaft, den du zu Bewährheit korrigiert hast: Eine Theorie gilt solange als "wahr", bis sie falsifiziert ist.
Es ist das "wahr" eines wissenschaftlichen Glaubens oder das "wahr" im Sinne "zumindest wahrer als alles vorher falsifizierte" aber kein logisches wahr.

Christin, bedeutet das unser Gehirn ist das denkbar ungeeigneteste Instrument, um nach einer eventuell existierenden Realität zu suchen?

christin hat gesagt…

Clemens, ich denke nicht, dass menschliche Sinnesorgane und das übergeordnete Gehirn ungeeignete 'Instrumente' sind unsere Umwelt zu erfassen,zu reflektieren und damit eine, wie du sagt, eventuell existierende Realität zu suchen.
Die menschlichen Sinnesorgane "senden" durchaus elektrophysiologisch nachweisbare Potentiale an das Gehirn und übersetzten so die Umwelt. Vorallem die Entwicklung unserer Großhirnrinde (die das komplexe Verarbeiten dieser Signale ermöglicht) ist Grundlage für differenzierteres Verhalten als in einfachen Signal- Reflex- Kreisläufen.
Es ermöglicht weiter die verbale Kommunikation über Wahrnehmung, Empfindung, Erleben...
Dies ist die Ebene auf der ich nochmal zur angesprochenen Prägung kommen möchte. Seit der Sprachentwicklung (dabei ist die Entwicklung des Gehirns Teil eines Gesamtprozesses- man kann also nicht sagen, was zu erst da war: mehr Gehirnwindungen oder Sprache???) wurden eigene Erfahrungen, die man durchaus als real bezeichnen kann, an die Nächsten weitergegeben. So dass es eine Art 'für jeden gültigen Realität' gibt. Einfaches Beispiel: Es ist nicht zu leugnen, dass wenn man sich allein+unbewaffnet mit einem Säbelzahntiger anlegt, man am Ende Futter des Tigers wird.
Dieser Zusammenhang gilt für jeden.
Deshalb ist es schon mal für mich keine Frage, dass es gewisse Realitäten unserer Umwelt gibt, die wir mit unseren Fähigkeiten sehr wohl erfassen und verarbeiten können.
Das Problem stellt sich mir eher bei der Bewertung verschiedener Wahrnehmungen. Es gibt sensible Menschen, die z.B. viel heftiger auf einen Schmerzreiz reagieren, als du es vielleicht beim selben Reiz tun würdest. Ihr könnt euch über eure Wahrnehmungen unterhalten und sie mit den Mitteln unserer Sprache erfassen. Aber du kannst nicht den Schmerz des Anderen fühlen. Du musst ihm glauben. Seine Wahrheit ist nicht deine.
Es ist das Problem des Individuums, des von anderen getrennt sein, dass man immer wieder erlebt. ...was Chancen enthält, aber auch sehr bitter sein kann.
Die Frage der Wahrheit, wie sie hier aufgekommen ist, beschäftigt sich meiner Meinung nach, viel mehr mit dem Erfassen einer Allgemeingültigkeit. Es ist der Grund warum der Mensch die Natur beobachtet, warum es Gesetzmäßigkeiten ableitende Naturwissenschaften gibt.
Wobei man sich, wie hier ja auch schon gesagt, immer von Annahmen aus vortastet, bis das Gegenteil dieser Annahme glaubhaft bewiesen ist. Was aber auch zu Erkenntnissen, und somit zu Wahrheit führt.
Unser Gehirn ist somit keineswegs das falsche Korrelat zur Erfassung von Wahrheiten. Aber es ist (da wir Teil eines fortwährenden Entwicklungsprozesses sind) meiner Meinung nach unmöglich absolute Wahrheit zu definieren.
Ich wiederhohle mich, aber ich stimme Georg zu, man muss eher über Annahmen sprechen. Und ergänze, über Wahrnehmung und die persönlichen Schlussfolgerungen daraus... dann kann man z.B. eine Wahrheit bewusst machen, die zwischen den Kommunikationspartnern besteht.

christin hat gesagt…

Da fällt mir noch etwas ein, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob dies hierher gehört.
Es ist das Problem der Entwicklung und der ungeheuren Vielfalt unserer Welt, dass man nie alles wissen kann. Man kann nach intensiver Beschäftigung mit einem Teilgebiet z.B. der Physik auf den aktuellen Stand dieses Gebietes kommen- und sehr viele Wahrheiten erkennen. Aber auf einem anderen Gebiet des Lebens ist man total ahnungslos. Dies heißt ja aber nicht, das dort nichts existiert. Man selbst weiß nur nichts darüber.
Daher ist die zwischenmenschliche Kommunikation auch so bedeutungsvoll. Wenn nicht gar das zentrale Element der Wahrheitsfindung... da sie es ist, die gemeinsame Nenner schafft.
Also: "Let's discuss, baby!"
(oh, ich komm gerade vom Gospel- da rutscht so etwas auch mal aufs virtuelle Papier)

Ändy hat gesagt…

Christin: Backspace

Ändy hat gesagt…

Nein, freut mich, wenn du etwas Beschwingtheit aus deinem Herzen hierhin zauberst.

christin hat gesagt…

Ändy: Na danke für die verbalen "Blumen"!
Das ist die Gelegenheit noch eine Diskussion zum Thema Kommunikation in Gang zu bringen?! Die verschiedenen Ebenen der Kommunikation können meiner Meinung nach zu erheblichen
"Störgeräuschen" (im Sinne von Missverständnissen/Fehlinterpretationen) zwischen Sender und Empfänger führen. Ich würde mich über Gedanken zu diesem Thema und damit vielleicht zur Intensivierung der eigenen Kommunikationsfähigkeiten freuen!

Clemens: Mal ganz davon abgesehen, dass wir uns (und demnach auch unser Gehirn) in Entwicklung befinden- und man somit nicht sagen kann, ob es noch "effizientere" Organstrukturen geben wird, als die heute exsistenten. Mit welchen Mitteln, als mit den vorhandenen, würdest du sonst die Realität erfassen wollen?

clem hat gesagt…

Hey Christin on the road again, ich meinte nicht, dass es geeignetere Apparate gibt, aber es ist doch trotzdem kein geeignetes Instrument (wenn auch das einzige). Vielleicht sollte ich besser sagen, das finden einer Wahrheit ist die falsche Aufgabe dafür.

jakob hat gesagt…

ich mag dem clemens zustimmen: mein neuroanatomie prof wies mich darauf hin das menschliche gehirn arbeite doch mit einer gewissen meßbaren verzögerung von weniger als einem zehntel sekunde. es stellt sich also die frage ob es wirklich das richtige instrument zum vermessen der gegenwart darstellt, von einem wahrheitsbegriff ganz abgesehen., dies aber nur so als aspekt zum thema menschliches gehirn.

Ändy hat gesagt…

Im Bezug auf Kant, lässt sich mit dem Entscheidungsverfahren der Logik nachweisen, dass die Argumentation korrekt ist, also alle Schlüsse sind logisch wahr. Das heißt, wenn Person S sich dessen unbezweifelbar bewusst, dass ihr Dasein in der Zeit bestimmt ist, dann existiert auch eine externe Realität. Der Punkt liegt hier nicht in c), sondern bereits in a), denn wie soll sich S laut Prämisse dessen bewusst sein, dass ihr Dasein in der Zeit bestimmt ist. Doch nur durch Interaktion mit der externen Realität. Nehmen wir an, dass S es trotzdem ist, dann ist es kein Problem c) zu behaupten. Was Kant meiner Meinung nach daran verdeutlichen möchte, ist die Konsequenz daraus zu behaupten, es existiere nur eine subjektive Realität. Denn die Konsequenz ist dann auch fest zu behaupten, man existiere selber nur in sich selbst, quasi als Einbildung. Aber wer würde so was schon behaupten.

Die bisherigen Beiträgen der männlichen Zunft lassen sich meines Eindrucks nach grob Zusammenfassen zu der Aussage „Es ist keine absolut wahre Realität erfahrbar.“ Dem stimme ich ausdrücklich zu. Die zahlreichen Relativierungen und Nachweise der beschränkten Wahrnehmung der Realität führen zu den deflationären Theorien der Wahrheit, welche einen minimalen Wahrheitsbegriff vorschlagen, und ebenfalls in meinem Büchlein formuliert sind:

5. Die Behauptung 'p ist wahr' ist gleichbedeutend mit der Behauptung ''p':dem stimme ich ausdrücklich zu' (Performations- oder anaphorische Theorie).

Oder, wenn man es von einem anderen Standpunkt betrachtet, und sich vergegenwärtigt wie man mit Wahrheit umgeht. Bezüge zur Realität lassen sich nur über die Sprache in Form von Aussagen herstellen. Diese sprachliche Ebene nennt man Objektsprache. Soll nun über den Wahrheitswert dieser Aussage entschieden werden, so begibt man sich auf eine höhere Ebene der Sprache, die der Metasprache, und sagt dann „p ist wahr“ oder „falsch“ eben bezüglich des Inhaltes von „p.“ Denn Zusammenhang zwischen Objektsprache und Metasprache stellt folgender Satz dar:

6. Satz 'p' ist wahr genau dann, wenn p (Eliminations- oder Zitattilgungstheorie).

Beide Theorien beschäftigen sich mit der „Zuschreibung von Wahrheit und halten jede Theorie, die anzugeben sucht, was Wahrheit ist, für überflüssig von ihrem Ansatz her für aussichtslos.“ Die Aussichtslosigkeit hätten wir ja bereits erörtert. Das Ziel dieser Theorien liegt meiner Ansicht nach darin, dennoch einen Wahrheitsbegriff zu schaffen, mit dem gearbeitet werden kann.
Bei aller Beharrlichkeit auf die Einschränkung unsere Wahrnehmung, halte ich es nicht für Sinnvoll jegliche Diskussion über den Wahrheitsgehalt einer Aussage im Keim zu ersticken, mit der Anführung dieses Arguments. Reinste Sophisterei.
Also die Ansätze zu einem praktikablem Wahrheitsbegriff liefern uns die ersteren Sätze. Satz 5. hebt den subjektiven Einfluss nochmals hervor, und vor allem 6. gibt uns eine Definition von Wahr an die Hand, welche subjektive Einflüsse von vornherein mit einschließt, und uns dennoch von Wahrheit reden lässt. Die Aussage 'p' wird nämlich bereits vorausgesetzt, ungeachtet dessen wie wir dazu gekommen sind. Dies ist auch der Punkt, an dem die Logik einsetzt, da es nun möglich ist im Rahmen einer Metasprache über die Konsistenz der Objektsprache zu entscheiden, bei gegebener Methodik, also Logik, die es hieraus zu entwickeln gilt. Die Logik befasst sich also primär nicht damit, über die Übereinstimmung des Inhaltes der Sätze mit der absoluten Realität zu entscheiden, sondern untersucht die Richtigkeit der Schlussfolgerungen, bei gegebenem Inhalt, sie entscheidet über die logische Wahrheit.
Somit hätten wir einen Wahrheitsbegriff, der dem Menschen angepasst ist, und eine Methodik, mit der die Wahrheit von Sätzen in Bezug zueinander stellen können.
Der nächste Schritt wäre nun die Definition einer Wahrheit der Prämissen, womit wir bei den internalistischen Theorien der Wahrheit wären:

7. Satz 'p' ist wahr für die Personen P1, ..., Pn genau dann, wenn die Anerkennung von 'p' nützlich ist für die Realisierung von Zielen der P1, ..., Pn (pragmatische Wahrheitstheorie).

Unter dem Aspekt der Nützlichkeit, und im Sinne der wissenschaftlichen Axiomatik und Theorie:

8. Satz 'p' ist wahr genau dann, wenn 'p' vereinbar ist mit – oder sogar gefolgert werden kann aus – den bisher akzeptierten Sätzen (Kohärenztheorie).

Auch Satz 2. könnte hier ohne weiteres angeführt werden.
Die „Wahrs“ dieser Sätze sind im Sinne von 5. und 6. zu sehen, und stellen keinen Absolutheitsanspruch. Diesen Wahrheitsbegriff nutzt auch die Wissenschaft, wodurch es durchaus möglich ist in diesem Rahmen von Wahrheit zu reden. Die wissenschaftliche Wahrheit geht zum Teil aber noch weiter, indem man zu einer möglichst objektiven Wahrheit zu gelangen versucht, durch die Abschwächung des subjektiven Einfluss des Menschen. Dies wird über Experimente erreicht, die einen Vorgang in der Natur in eine Messgröße umwandeln, und die daraus entwickelten Theorien anhand von Falsifizierungsüberlegungen einer kritischen Überprüfung unterziehen. Alle Aussagen die aus wahrer Theorie logisch richtig ermittelt wurden, sind dann auch logisch wahr.
Zu dieser Objektivierung gehört auch die Untersuchung des Einflusses der Subjektivität, womit wir bei Christin angelangt wären. Bei fortschreitender und erfolgreicher Erforschung des Gehirns wäre rein hypothetisch die vollkommene Aufschlüsselung der Einflüsse des Menschen auf den Wahrnehmungsprozess denkbar, woraus man wiederum Aussagen über eine exaktere Realität ableiten könnte, natürlich aber nur im Rahmen der durch den Menschen entwickelten Theorien. Diese Realität wäre dann die nahezu maximal für den Menschen erfahrbare Realität.
Die Aufgabe besteht also darin sich seiner Grenzen bewusst zu werden, und in diesem Rahmen einen Weg zu finden, der einen das Meistmögliche ermöglicht.