Beim Lesen der Zeitung reloaded
Heute morgen nach einem ausgiebigen Frühstück bei einem Audiostream der sonst empfehlenswerten Serie Sternstunde Philosophie (Danke André!) leicht betrübt von Alice Schwarzers undifferenzierten Umgang mit dem Begriff Pornografie, wende ich mich erwartungsvoll der Wochenzeitung Jungle World zu, die ich in Vorbedacht gestern gegen einen Großteil unseres Pflaschenpfands beim Konsum eintauschen ließ.
Das Titelblatt ließ mich aufatmen: Ein Hund, der einem kleineren ausgestopften Hund auf Rädern am Poloch schnuppert. Mit "Schnüffler am Arsch - Der Streit um Paragraf 129a" wurde für die Themenseiten geworben, auf die ich schnell gelangte, nach einem amüsanten Kurzbericht über die Erfolge und Misserfolge der Redaktion beim Berliner Autorencup des Hallenfußballs gegen den Spiegel und die junge Welt.
Es folgten 3 Seiten sachlicher Auseinandersetzung mit den Vorfällen der illegalen Ermittlungsmethoden im Zuge der ungerechtfertigen Terrorismusvorwürfe gegen aktive Linke im Vorfeld des G8-Gipfels. Richtig auf die Fresse gab es in einem Kommentar von Ivo Bozic, der die Themenseiten abrundete indem er mir das schöne Gefühl gab, eine Zeitung zu lesen die linkskritisch sein kann ohne ideologieverblendet zu sein. Mit dem Titel "Du bist nicht 129a!" schießt er gegen linkseinheitliche Rituale des rebellierenden Konsens, und stellt fest: Auch wenn linke Brandstifter keine Terroristen sind, sind sie dennoch kriminelle und ihre unrechtmäßige Verfolgung mit 129a steht in keinem Zusammenhang zur paranoid gefühlten Realität einer bereits existenten (wenn auch langfristig möglichen) Totalüberwachung jedes x-beliebigen. Auch wenn es nicht zu 100% die eigene Meinung wiedergibt, würde sowas im Freitag nie stehen!
Ein kurzer Kommentar widmet sich anschließend dem interessanten Effekt, dass zwar in vielen medialen Debatten der letzten Jahre oft Erkenntnisse darüber gesammelt wurden, was Terrorismus nicht ist während die Öffentlichkeit in der Frage was er denn sei keinen Schritt weiter gekommen ist.
Ich blättere bereits auf Seite 6 ohne einen Artikel ausgelassen zu haben und unterhaltsam geht es weiter: "Der Schwiegersohn mit der Fönfrisur" karikiiert die Medienerscheinung Christian Wulffs, danach der Nokia-Artikel.
Auf Seite 10 entschließe ich mich erstmals dazu, den Artikel zu überspringen. Zum einen weil es um den Finanzmarkt geht, aber auch weil mir langsam klar wird, dass ich es nicht schaffen werde, die ganze Zeitung konzentriert durchzulesen und langsam selektieren sollte. Also lasse ich auch die Privatisierung der Leipziger Stadtwerke mal unangetastet und lese zur Entspannung einen kurzen Schmähartikel über Horst Köhler.
Wieder leicht in Lesestimmung beschließe ich, die zwei Seiten des Wahlbeobachters aus New Hampshire wegen mangelnden Antiamerikanismus in die Woche zu verschieben, und lande nach der Überblätterung weiterer Themen (Drogenbandenkämpfe in Rio de Janeiro, Erfolg der radikalnationalistischen Partei Serbiens...die Zähe zweite Zeitungshälfte scheint angebrochen) bei einer Analyse des Konflikthintergrunds vom ausgebliebenen Papstbesuch bei der Universität in Rom.
Als Reaktion auf das Vorhaben des Bundesratsministers Wolfgang Reinhard aus Baden-Württemberg, im Rahmen der Volksverhetzung Schimpfworte wie "Scheiß-Deutscher" zu verbieten, bietet sich mir auf der nächsten Seite ein Gespräch eines Redakteurs mit der Duden-Hotline über grammatische Fallstricke bei der Verwendung von "Scheiß-Deutscher" in puncto Großkleinschreibung, Bindestrich, unbestimmter Form, Plural und Anrede.
Die drei letzten Artikel hatten irgendwas damit zu tun, dass die 68er eine narzisstische Bewegung war, amtierende Außenminister Boliviens vor einer Verklärung der Koka-Pflanze warnt und irgendwas mit Nazis.
Völlig überladen und lesesatt stelle ich fest, dass weitere 24-Seiten der Beilage Dschungel auf mich warten und ertappe mich dabei, einen hochkarätigen Artikel über die Parallelen zwischen Dichtern und Sprachgestörten (nur sie sind gezwungen, sich auf den Stoff der Sprache zu konzentrieren und können nicht einfach plaudern.) mit meinem jämmerlichen Rest an Konzentrationsfähigkeit zu entehren. Ich entschließe mich, noch die Comics auf der Rückseite zu lesen.
Diese Zeitung ist funky und ich empfehle jedem mal ein Probelesen, besonders aber dem Georg. Sie macht sympathisch, dass sie aus einer Abspaltung von der Jungen Welt entstand, sich als unorthodox links bezeichnet, und es sich bei Antifa und Autonomen verschissen hat. Sie hat diese ideologische Freiheit in einem Artikel Bush und Bin Laden scheiße zu finden.
2 Kommentare:
yo clemens-
die JUNGLE WORLD fetzt. dein post zeigt mir nur grade, dass ich sie mir schon ewig nicht mehr gekauft und genossen habe. das muss ich ändern!
Recht habt ihr, eine annehmbare, wenn nicht gar sehr gute Zeitung. Leider nur wöchentlich.
Allerdings, auch diese Zeitung (wenn auch sicherlich oftmals treffender kommentiert) kann den täglichen/wöchentlichen Mist nicht wegwischen. Augen auf heißt leider oftmals, es tut weh.
Kommentar veröffentlichen